Kapitel 3

"Als ob wir Feinde wären"

Im September verkünden die Nazis neue Gesetze. Sie legen fest, dass Bürgerrechte nur noch für diejenigen gelten, die im Sinne der Nationalsozialisten als „Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes“ gelten. Jüdische Bürgerinnen und Bürger verlieren dadurch jeglichen Schutz durch die Bürgerrechte, Ehen zwischen „Nichtjuden“ und Juden sind jetzt offiziell verboten und das Wahlrecht wird ihnen aberkannt. Auch in den Schulen tut sich was. Ein neues Schulfach kommt dazu. Genauer gesagt, das Fach Biologie wird erweitert um „Rassenkunde“. Jetzt bekommen es die jüdischen Schülerinnen auch im Unterricht schriftlich bestätigt, dass sie Menschen zweiter Klasse sind. Und für Ida folgt der nächste Schock: Herr Ascher muss gehen – endgültig. Diesmal ist es nicht nur ein Gerücht. Er ist vom einen auf den anderen Tag einfach weg.

Der neue Mathelehrer heißt nun Müller. Das war’s mit Idas Lieblingsfach. Ihre Noten werden schlechter. Auch ihre Eltern können nicht verstehen, warum sie plötzlich schlechte Noten in Mathematik nach Hause bringt.

Nach diesen neuen Gesetzen spürt Ida die Besorgnis ihrer Eltern, auch wenn sie versuchen, das vor ihr zu verbergen. Was Ida jedoch zwangsläufig nicht entgeht: Die Haushaltshilfe der Familie muss nach der neuen Gesetzeslage auch gehen. In den letzten Jahren waren es immer junge Frauen aus der Pforzheimer Umgebung, die Ida sehr mochte. Vor allem sonntags ging sie gelegentlich mit ihnen nach Hause. Das war eine tolle Abwechslung.

Ida, Lilli und Trude versuchen an der Hildaschule das Beste aus ihrer Situation zu machen. Halbwegs unbekümmert fühlt es sich für sie nur an, wenn sie sich mit ihren jüdischen Freunden in ihrer Freizeit treffen.

Kurz vor Schuljahresende im April beginnt der Schultag für Ida wie jeder andere. Doch plötzlich ruft Direktor Kinkel alle jüdischen Mädchen zu sich. Sie sind verunsichert und fragen sich, was jetzt kommt. Dr. Kinkel macht ihnen klar, dass sie im nächsten Schuljahr nicht mehr an der Hildaschule erwünscht seien. Ida ist am Boden zerstört. Was macht ein 16-jähriges Mädchen ohne Schule? Was ihr kurzzeitig Hoffnung macht, ist die Aufnahme in die Frauenarbeitsschule. Aber auch hier ist es nach den Sommerferien das gleiche Spiel. Sie solle nicht mehr kommen, wird ihr gesagt. Ida ist verzweifelt. Genauso wie ihre Freundin Ellen weiß sie nicht, was sie machen soll. Ihren Vätern gelingt es irgendwie, Devisen zu beschaffen. Das gibt ihnen die Chance auf eine neue Schule, allerdings in der Schweiz. „Professor Busers Töchterinstitut“ nennt sie sich. Für die beiden Mädchen bedeutet das Abschiednehmen von der Heimat. In Teufen in der Nähe von Sankt Gallen beginnt für sie ein neuer Lebensabschnitt. Eine gute Schule – streng, aber gut. Das Schlafzimmer teilt sich Ida mit einer Französin und einer Engländerin. Das hilft ihr beim Sprachenlernen, denn sie müssen sich jeden Tag in einer anderen Sprache unterhalten. So bekommt Idas Französisch einen Marseiller Akzent, ihre neuen Freundinnen lernen dafür „Pforzheimerisch“. Der Besuch der neuen Schule ist für Ida wie eine andere Welt. Eines Tages ist die Engländerin sehr aufgeregt, als ihr König abdankt, um eine Amerikanerin zu heiraten. Ihre französische Freundin Noelle kommt sogar einmal in den Ferien zu Besuch nach Pforzheim. Was Ida außerdem auffällt: Auch an der neuen Schule behandeln sie im Geschichtsunterricht moderne europäische Geschichte, genau wie letztes Jahr an der Hilda, allerdings von einer anderen Perspektive aus und somit komplett anders.

An der Hildaschule spitzt sich die Situation weiter zu. Noch ist es den jüdischen Schülerinnen per Gesetz nicht verboten, die Schule zu besuchen, aber der Druck wird immer größer. Im Laufe des Schuljahres 1936 geben weitere Schülerinnen dem Druck nach und verlassen sie: darunter „Lilo“ Krieg und Herta Levy. Wahrscheinlich hielten sie es einfach nicht mehr aus. Für einige heißt das, dass sie ab Herbst in einer speziell eingerichteten „Judenschule“ unterrichtet werden. Die Nazis möchten jüdische Kinder aus den öffentlichen Schulen „entfernen“. Im Herbst wird auch in Pforzheim eine solche Schule eingerichtet. Die sogenannte „Jüdische Abteilung“ an der Hindenburgschule ist nichts anderes als ein Schulghetto, in dem die jüdischen Schülerinnen und Schüler von den anderen getrennt unterrichtet werden. Es gibt gesonderte Eingänge. Die Pausen sind zeitlich versetzt. Die Ausgestoßenen sollen mit den „volksdeutschen“ Schülern nicht mehr in Kontakt kommen.

Hindenburgschule (heute Osterfeldschule) •Q

Unterrichtet werden sie von der jüdischen Lehrerin Hedwig David, die früher mal Hilfslehrerin an der Hildaschule war. Idas Bruder Hans ist auch seit Kurzem an der Schule, gemeinsam mit seinen Freunden Karl Landau und Bernd Kahn. Er findet Frau David ziemlich streng, aber sie ist sehr darum bemüht, den Schülern etwas beizubringen. Die andere Klasse wird von Frau Halberstadt unterrichtet, Religionsunterricht gibt Herr Marx. Auch Lilo besucht nun das „Schulghetto“ und trifft dort ihre Freundin Herta Dreifuss wieder. Herta hatte kurzzeitig überlegt, sich an der Hildaschule anzumelden. Aber wie auch Lore Hirsch hatte sie gehört, wie man dort mit den jüdischen Kindern umgeht, und sich dagegen entschieden. Alle teilen inzwischen ähnliche Erfahrungen. Aber für die meisten ist am schlimmsten, dass sich selbst einstige Freunde von ihnen abwenden. Herta hatte das erst kürzlich bei einem Kinobesuch gemerkt, als sie ihre eigentlich „beste“ Freundin traf. Auch Ursula tut es besonders weh. Ihre Freundinnen wollen auf einmal nichts mehr mit ihr zu tun haben.

Auch wenn es traurig ist, als „Verstoßene“ an der Hindenburgschule unterrichtet zu werden, so gibt es doch einen gewissen Schutz. Die Schülerinnen und Schüler sind nicht mehr täglich den Anfeindungen ausgesetzt und es entsteht ein Gemeinschaftsgefühl, das einem irgendwie auch Kraft gibt in dieser Zeit.

ETHEL ZLOCZOWER
Ethel (*16.11.1924 in Pforzheim) wohnt in der Rennfeldstraße 3. Sie wird mit ihrer Familie 1940 nach Gurs verschleppt. Ethel wird gerettet und lebt später in den USA.
JENNY HAUSSPIEGEL
Jenny (*19.12.1923 in Pforzheim) gelingt 1939 die Flucht in die USA.
LORE HIRSCH
Lore (*16.7.1924 in Pforzheim) wohnt bis 1937 in der Pflügerstraße 47, danach in der Jahnstraße 7. Sie flieht 1939 über Frankreich in die Schweiz.
SALLY STEIN
Sally (*5.7.1923 in Pforzheim) gelingt 1939 die Flucht nach Palästina.
HERTA DREIFUß
Herta (*14.11.1924 in Pforzheim) wohnt in der Ebersteinstraße 18. Sie kann 1939 mit ihren Eltern in die USA fliehen.
MARGA KARLE
Marga (*7.7.1924 in Dillstein) wird 1945 gemeinsam mit ihrer Mutter in das KZ Theresienstadt deportiert. Sie überlebt.
KLARA STEIN
Klara (*5.7.1923 in Pforzheim) gelingt 1939 die Flucht nach Palästina.
REGINA WINTERGRÜN
Regina (*17.5.1925 in Pforzheim) wird 1939 nach Polen abgeschoben. Sie gilt als "verschollen".
URSULA NATHAN
Ursula (*16.2.1925 in Pforzheim) wird 1945 in das KZ Theresienstadt deportiert. Sie überlebt und emigriert später in die USA.
MAX HAUSSPIEGEL
Max (*2.11.1925 in Pforzheim) kann 1939 in die USA fliehen.
SIEGBERT LEVY
Siegbert (*12.11.1923) wohnt in der Zerrennerstraße 28. Ihm gelingt mit seiner Familie im Dezember 1938 die Flucht in die USA.
LISELOTTE KRIEG
"Lilo" (*31.10.1924 in Ravensburg) wohnt mit ihren Eltern in der Bleichstraße 60. Ihr gelingt 1939 die Flucht nach Australien.
LIESEL HALBERSTADT
Liesel gelingt 1939 die Flucht in die USA.

Klassenfoto „Jüdische Abteilung“ •Q

Die zunehmenden Diskriminierungen und Schikanen verschärfen natürlich auch die Diskussionen in den jüdischen Familien: Auswandern oder bleiben? Auch bei Ullmanns sprechen vor allem Trudes Eltern immer wieder darüber. Die treibende Kraft ist ihre Mutter. Ihr Onkel lebt bereits seit Anfang der 1930er Jahre in den USA. Er könnte vielleicht helfen, ein Visum zu beschaffen. Doch Salli entgegnet dann immer, dass die Nazis sich nicht mehr lange halten würden. Außerdem ist er Kriegsveteran und Träger des Eisernen Kreuzes. Das werde ihm sein Land nicht vergessen. Das könnten auch die Nazis nicht ignorieren.